"Natürlich war es immer ein Boys Club"

Sängerin Anastacia, seit zwei Jahrzehnten stimmgewaltiger Fixstern am Pophimmel, begegnet der aktuellen Debatte um ein patriarchales System im Pop ohne brennende Fackeln. Aber mit viel Leidenschaft für Veränderung. Über die Wechseljahre könnte ruhig mehr gesprochen werden, findet sie

von "Natürlich war es immer ein Boys Club" © Bild: Marc Brel

Sie zählen seit zwei Jahrzehnten zu den Fixgrößen im Musikbusiness mit einer Bilanz von über 50 Millionen verkauften Tonträgern. Waren die Verhandlungspartner auf Ihrem Weg zum Erfolg mehr Männer oder Frauen? Wer hat mit Ihnen gemeinsam bei Plattenfirmen, bei der Tourplanung oder im Tonstudio die Weichen gestellt?
Ziemlich sicher waren das eine Menge mehr Männer als Frauen. Aber Geschlechterrollen waren früher für mich nie ein Thema. Ich habe nie darauf geachtet, ob ich mit Männern oder Frauen arbeitete, sondern nur darauf, ob gute Arbeit geleistet wird. Zum Glück habe ich nie Diskriminierung erlebt oder schlimmere Dinge. Aber natürlich war der CEO der Plattenfirma ein Mann und mein A&R-Betreuer und mein Publizist ... Das hat sich aber damals nicht falsch angefühlt, weil es die gesellschaftliche Norm war. Das Musikgeschäft war immer ein "Boys Club".

Das scheint sich zu ändern. In den USA wurde der Gründer des legendären Magazins "Rolling Stone" wegen einer diskriminierenden Äußerung aus dem Vorstand der Rock'n'Roll Hall of Fame entlassen. Er hatte die Auswahl der Interviewpartner für sein Buch - alles Weiße Männer - damit erklärt, dass Frauen oder Schwarze Gesprächspartner nicht ähnlich artikuliert oder philosophisch wären.
Heute sprechen wir zum Glück über solche Äußerungen und thematisieren Diskriminierung. Das finde ich extrem wichtig. Ich bin als blondes, Weißes Mädchen aufgewachsen, doch durch meine Schwarzen Freunde habe ich hautnah viel über Alltags-Rassismus mitbekommen. Ihre Eltern sprachen mit ihnen darüber, wie sie sich verhalten sollen, wenn die Polizei sie anspricht. Solche Gespräche soll niemand führen müssen. Das Credo meiner Mutter war, dass man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen darf, und allen Menschen gleich begegnen soll. Sie macht sich sehr für die Schwulenbewegung und Black Lives Matter stark. So bin ich aufgewachsen. Vermutlich war ich deshalb so überrascht, als ich meine Band aus den besten Musikern zusammengestellt habe, und plötzlich jemand sagte: "Wow, du hast eine Schwarze Band." Es war mir davor nicht aufgefallen. Ich konnte auch nie etwas damit anfangen, wenn man sagte, ich klinge wie eine Schwarze Sängerin. Ich klinge gefühlvoll, nach viel Soul, damit bin ich einverstanden.

Das patriarchale System, das nun leidenschaftlich diskutiert wird, haben Sie nie als problematisch empfunden?
Ich hatte damit nie Probleme, ich habe keine Diskriminierungsgeschichten anzubieten. Heute ist mir klar, dass die Welt um mich eine Männerwelt war. Mein Album mit Coverversionen berühmter Männer habe ich im Jahr 2012 "It's a Man's World" genannt. Alle haben es geliebt, wie ich die Klassiker dieser Männer gesungen habe. Darüber habe mich kaputtgelacht! Das Musikbusiness war immer ein Boys Club mit jeder Menge Männerwitzen und zotigen Anspielungen, und ich finde es toll, dass wir diesen Club jetzt aufbrechen. Männer können gerne mit ihren Freunden und Söhnen und Onkeln unter sich bleiben, aber in dem Moment, in dem sie denken, dass der Boys Club eine unschuldige Person in einer verletzlichen Situation sexuell ausnutzen kann, ist Schluss. Es gibt nun selbstbewusste Frauen, die das nicht länger hinnehmen.

Vor 23 Jahren gab es keinen Aufschrei, als eine 19-jährige Britney Spears im TV-Interview nach ihrer Jungfräulichlichkeit gefragt wurde. Erinnern Sie sich?
Wenn ich zurückblicke, denke ich, wie konnte ich damals nur zusehen, ohne das grauenhaft zu finden? Damals schien es nicht ungewöhnlich: erst der Disney-Kinderstar, dann das Schulmädchen-Image, der Glanz und Glamour und Starrummel. Wir reden hier von einer Zeit, in der es hieß "So sind sie halt, die Buben", bei Dingen, die uns heute auf die Palme bringen würden. Das hört jetzt auf, weil es junge Frauen gibt, die statt mit 22 in die Familiengründung abtauchen zu müssen, mit 25 Chefinnen werden können und CEOs sind. Wir verändern uns, und damit öffnet sich auch für die Männer eine Tür zu Veränderung. Die Art von Männern, die ihre Machtposition benutzt hat, um zu bekommen, was sie wollte, wirkt heute nur noch armselig und ekelhaft. Gut, wenn solche Männer nun bloßgestellt werden. Das zeigt, wie klein sie in Wahrheit sind, wenn sie diesen Machtmissbrauch nötig haben.

»Diese Art neuen weiblichen Selbstbewusstseins wirkt für manche Männer bedrohlich«

Wenn man in der Musikbranche in Statistiken schaut, wirken die dramatisch: Laut einer US-Studie sind nur 22 Prozent der populären Stars Frauen. In den Billboard Hot-100-Jahres-Charts waren 30 Prozent Frauen. Der Anteil weiblicher Songwriter beträgt 13 Prozent, bei Produzentinnen sind es drei Prozent. Ist der Weg zur Gleichstellung noch weit?
Denken Sie mal darüber nach, wann Frauen das Wahlrecht bekommen haben. Ich merke mir Zahlen schlecht, aber wenn man diesen Zeitraum bedenkt (Anm.: in den USA im Jahr 1920, in Österreich und Deutschland 1918), erklärt sich die Statistik. Deshalb ist für mich jedes Prozent an Frauen ein gutes Prozent, es ist ein Prozent mehr. Nach Jahrzehnten, in denen wir nur Männerbands als Vorbilder hatten, greifen nun Frauen zu Gitarren und setzen sich ans Schlagzeug und sagen: "Ich kann das auch." Wie dieses zwölfjährige Mädchen, das mit den Foo Fighters am Schlagzeug aufgetreten ist. Ein Riesentalent! Dieses weibliche Selbstbewusstsein ist erst am Anfang, aber deutlich spürbar. Es gehört zu dieser Generation, die auch entscheidet, ob sie als "Er","Sie" oder nicht-binär leben will. Diese Generation sagt: "Wen außer mich geht das was an!?" Diese Art neuen, weiblichen Selbstbewusstseins wirkt für manche Männer bedrohlich. In Amerika ist es so bedrohlich, dass viele Staaten Gesetze erlassen, die es unmöglich machen, etwas anderes zu sein als verheiratet und schwanger und heterosexuell. Sie zwingen dich buchstäblich, dich um Jahrzehnte zurückzuentwickeln. Ich hoffe, viele Menschen wehren sich weiterhin und verteidigen die Freiheit. Mein Part ist es, ein Album voll mit positiven Botschaften in die Welt zu tragen. Und dabei habe ich nicht auf die Frauenquote geachtet.

© Daniel Scharinger / picturedesk.com STIMMGEWALTIG seit zwei Jahrzehnten. Anastacia überzeugt mit ihrer ungekünstelten Leidenschaft auf der Bühne und im Gespräch

Was war Ihnen denn wichtig?
Verstehen Sie mich richtig : Auf meiner Tour habe ich sehr auf eine inklusive Besetzung geachtet. Beim Album habe ich zuerst nach Melodien gesucht, die mich bewegen. Ich wusste nicht, von wem diese Lieder waren. Was mir gefiel, kam in die engere Wahl. Dann habe ich überlegt: Was sagen diese Lieder aus? Sind die Originalinterpreten Menschen, mit denen ich mich gerne austauschen würde? Dann habe ich mich mit viel Akribie und Bauchgefühl an eine Übersetzung gemacht. So ein Projekt, deutsche Hits in großem Stil auf Englisch neu zu erfinden, hat es noch nie gegeben. Und, stellen Sie sich vor, mitten in dieser Zeit hatte ich meine schlimmsten Menopausenbeschwerden aller Zeiten. Zuerst hatte ich keine Ahnung, was mit mir los war, denn mit den Hitzewallungen, die ich davor hin und wieder hatte, hatte das nichts zu tun. Ich konnte mir nichts merken, ich hatte Migräne, musste mich übergeben. Ich dachte, ich hätte einen Bandscheibenvorfall oder einen Gehirntumor.

Was haben Sie dagegen getan?
Lange Zeit habe ich mich in die Arbeit geworfen, bis es nicht mehr ging. Dann kam der Arzt und stellte fest, dass meine relevanten Hormonwerte bei null liegen, tatsächlich null. Ich hatte eine Behandlung mit Hormonen und bioidenten Produkten und fühlte mich besser. Vor allem war ich so froh, dass ich keinen Gehirntumor hatte. Über so etwas reden wir auch viel zu wenig! Dabei würde ein gesellschaftlicher Diskurs über die Wechseljahre vielen Frauen helfen. Hätte ich gewusst, dass meine Vergesslichkeit ein Zeichen für die Menopause ist, wäre es einfacher gewesen. Hätte ich gewusst, wie einfach man sich helfen lassen kann, hätte ich das früher gemacht. Ich bin kein guter Ratgeber, weil ich das Gegenteil von einem Hypochonder bin. Ich bin der Patient, der wartet, bis es kracht, bevor er zum Arzt geht. Gleichzeitig tut es mir gut, dass ich kein Mensch bin, der ständig das Gefühl hat, gleich sterben zu müssen.

Ist es Ihnen leicht gefallen, Ihren Weg zu gehen, was die gesellschaftliche Erwartungshaltung an Frauen betrifft: Karriere, Kinder, Ehefrau ...
Bis zu meinem 30. Lebensjahr hatte ich keine Karriere. Ich dachte lange, aus mir würde deshalb eine Ehefrau mit Kindern und das war okay. Ich liebe Kinder. Kurz vor meinem Durchbruch war ich arbeitslos und habe überlegt, eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin zu machen. Ich wollte mit Kindern arbeiten. Und dann ist es passiert, dass ich in dieser TV-Show war und plötzlich gleich mehrere Plattenverträge angeboten bekam. Der richtige Partner, um eine Familie zu gründen, ist nie gekommen, und rückblickend denke ich, manche Beziehungen betreffend war es besser so. Oft denke ich daran, wie meine Mutter immer gesagt hat, dass ich dieses stimmliche Talent hätte, das nicht jedem gegeben wird. Das habe ich lange Zeit nicht geglaubt, weil ich mit dieser Stimme so anders war als alle anderen in der Branche. Ich dachte nicht, dass ich etwas beitragen könnte.

»Bis heute habe ich immer einen Plan B und ich liebe es«

Inwieweit hat dieser Glaube an ihr Talent von elterlicher Seite geholfen?
Das kann ich nicht sagen. Für mich war das Glas immer halb leer. Selbst als ich den Vertrag unterschrieben hatte, dachte ich, aus dem Album wird bestimmt nichts. Und als wir das Album produziert haben, dachte ich, es wird sicher kein Erfolg. Selbst, wenn gute Dinge passiert sind, ist es mir schwergefallen, sie anzunehmen, weil ich nicht enttäuscht werden wollte. Bis heute habe ich immer einen Plan B und ich liebe es. Deshalb bin ich gelassen, wenn etwas nicht klappt, weil ich mich genauso für den Plan B begeistern kann.

War das Ihr Credo, um es mental stabil durch zwei Jahrzehnte im Karussell dieser Branche zu schaffen?
Oh, was das betrifft, hatte ich so meine Phasen! Oft habe ich mich gefragt: Will ich das wirklich durchziehen? Warum ist dieses Business so unbeständig? Wäre ich heute eine neue Künstlerin, würde ich es nie schaffen, weil ich keinen Funken Hip-Hop in den Knochen habe und nichts Latino-Mäßiges. Ich liebe die Hip-Hop-Kultur und bin als Tänzerin in einem Video von Salt'n' Pepa aufgetreten, aber es ist mir als Sängerin nicht nahe. Ich kann mir nur selbst treu bleiben. Wenn die Mode und die Musiktrends sich ändern, bleiben die Dinge, mit denen ich mich wohlfühle, doch gleich. Ich will mich nicht um der Veränderung willen ändern.

Sie sagten, es sei Ihnen wichtig, dass die Sänger, deren Songs sie gecovert haben, auch Ihre Weltanschauung teilen. Denken Sie, dass es für die Gleichstellung der Geschlechter auch wichtig ist, die Männer für unsere Ziel an Bord zu holen?
Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Sie können unsere Ziele rein aus ihrer Genetik heraus nicht nachvollziehen und nicht dieselbe Leidenschaft dafür entwickeln. Sie bleiben Männer. Sie können nicht mit uns Frauenthemen umsetzen, und wir können nicht mit ihnen auf guter Kumpel machen. Was es braucht, ist, dass wir Frauen einander unterstützen. Hören wir auf, gegeneinander anzutreten und in einen Wettbewerb Frau gegen Frau zu gehen. Hören wir auf, bösartig übereinander zu sprechen . Wir sind diejenigen, die einander ohne Worte verstehen. Wenn Sie als Frau etwas durchgemacht haben, habe ich es ziemlich sicher ähnlich erlebt und weiß, wie es sich anfühlt. Ein Mann wird nie wissen, wie es ist, eine Frau zu sein. Wir teilen das Bedürfnis zu beschützen und zu fühlen. Männer sind seit Jahrhunderten egozentriert, während wir Leben in die Welt setzen. Es ist toll, wenn Männer ihre Frauen unterstützen und ihre Töchter empowern, aber unseren Weg müssen wir Frauen selbst gehen.

Was dachten Sie über Madonnas Rede bei der Grammy-Verleihung, nach der sie sagte, sie hätte das Gefühl, Frauen würden ab dem Alter von 45 Jahren bestraft, wenn sie ehrgeizig, hartarbeitend und abenteuerlustig blieben? Denn worüber alle sprachen, war ihr aufälliges Aussehen ...
Madonna ist extrem intelligent und war in so vielen wichtigen Bereichen eine Vorreiterin, ein Role Model, aber sie hat immer schon Riesenschritte gemacht, statt es langsam anzugehen. In einer Gesellschaft, die andere gerne klein hält, bietet das eine große Angriffsfläche. Aber natürlich ist es eine Schande, wenn wir Frauen gerade in einem Alter, wo wir verletzlicher werden, was unser Aussehen betrifft, so entmenschlicht betrachtet werden. Ein Tipp: Wenn Sie etwas machen lassen wollen betreffend des Aussehens, machen Sie es frühzeitig, warten Sie nicht zu lange, dann sieht es kontinuierlich gut aus.

»Ich dachte: Wahnsinn, jetzt bist du ein halbes Jahrhundert alt, wie cool ist das!«

Wie haben Sie Ihren 55. Geburtstag erlebt?
Ich bin immer schon ein Jahr weiter. Ich erzähle den Leuten seit einem Jahr, dass ich 55 bin. Als ich 50 wurde, fand ich das richtig aufregend. Ich dachte: Wahnsinn, jetzt bist du ein halbes Jahrhundert alt, wie unglaublich cool ist das!

Die CD

Auf ihrem achten Studioalbum geht Anastacia ungewöhnliche, neue Wege. "Our Songs" * ist eine Sammlung deutschsprachiger Popklassiker und Rockhymnen mit viel Feingefühl ins Englische gehoben. Zwischen so unterschiedlichen Künstlern wie Udo Lindenberg ("Cello", ), Tokio Hotel ("Monsoon", 2007), den Toten Hosen ("Best Days", bzw. "Tage wie dieser", 2012), Sarah Connor ("Beautiful", bzw. "Wie schön du bist", 2015) oder den Scorpions ("Still Loving You", 1984) ist Anastacias soulige Stimmgewalt der Schlüssel zu einer gewaltigen Neugeburt dieser vermeintlich altbekannten Hits. Aktuell findet ihr Duett mit Peter Maffay "Just You", eine Coversion seines Hits "So bist du" aus dem Jahr 1979, den Weg in die Charts.

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 39/2023 erschienen.