Darjeeling, ein bitterer Aufguss

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung. Eine Recherche in den Ausläufern des Himalayas, wo eine halbe Million Menschen vom Tee lebt und ein großer Plan seinen Anfang nimmt.

von Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung. © Bild: Simon Kupferschmied

Als die Sirene schrillt, haben sich die Nebelschwaden des Morgens bereits gelichtet. Wie jeden Tag hat Piyari ihr Nachtlager schon viel früher verlassen, Wasser herbeigeschleppt und es über der Feuerstelle zum Kochen gebracht. Noch im Dunkeln, nur im Schein einer kleinen Glühbirne, bereitete sie das Frühstück für ihre Kinder zu. Während die anderen weiter schliefen, kehrte sie den Hof vor der Hütte, fütterte die Hasen im Stall und wusch Wäsche. Und jetzt, nachdem alle versorgt sind, folgt das Schrillen der Sirene. Es ist 7 Uhr. Schichtbeginn.

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung.
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IN DER HÜTTE DER PFLÜCKERIN. Der Tag einer Pflückerin wie Piyari beginnt früh. Sobald sie ihre Hütte verlässt, erwarten sie Stunden beschwerlicher Arbeit

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung.
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AUSBEUTUNG AUF DEN PLANTAGEN. Es sind fast ausschließlich Frauen, die auf den Plantagen schuften müssen. Die Arbeit dort ist hart und entbehrungsreich

18 Kilo Tee für 2,61 Euro

Aus den Holzhütten strömen die Frauen des Dorfes. Ihr stummer Marsch erreicht nach einer halben Stunde sein Ziel: ein grenzenloses Buschwerk aus kräftigem Grün. Es ist Tee, der hier gedeiht. Auf Sträuchern, die den Frauen bis zur Hüfte reichen. Fast wie ferngesteuert umkreisen sie sie in den nächsten Stunden. Bücken und pflücken. Das ist ihr Rhythmus. Jeweils "two leaves and a bud", also zwei Blätter und eine Knospe. Und so bückt sich Piyari, umfasst den frischen, hellgrünen Austrieb, trennt ihn behutsam von der Pflanze und wirft ihn in das Tuch, das an einem Band über ihre Stirn gebunden ist. Ein und dieselbe Bewegung. Immer und immer wieder. Bis sie das Kreuz quält. Bis sie jede Sehne ihres Körpers spürt. Bis sie ihr Alter, das sie auf 45 schätzt, vergessen hat. Bis der schwere Sack auf ihrem Buckel gefüllt ist. 18 Kilogramm muss sie bis zum Ende des Tages ernten. Gut 30.000mal wird sie sich dafür bücken. Und 230 Rupien, umgerechnet 2,61 Euro, wird sie dafür an Lohn erhalten. Umgelegt auf ein Kilo, sind das 1,4 Prozent des Preises, für den der kostbare Tee später in Österreich verkauft wird.

Um an ihn zu gelangen, ließen die Briten einst Setzlinge aus China in ihre indische Kronkolonie schmuggeln und begannen, selbst mit dem Anbau zu experimentieren. An den Ausläufern des Himalaya-Gebirges hielten sie die Bedingungen für ideal. Denn Tee verlangt nach dem richtigen Mix aus genug Sonne, reichlich Niederschlag und Temperaturen zwischen 18 und maximal 30 Grad. In dem zuvor dünn besiedelten Gebiet heuerten die Briten Arbeitskräfte aus Nepal an oder verschleppten diese gar. Sie schienen ihnen geeignet für die schwere Arbeit in den teils steilen Teeterrassen. Frauen als Pflückerinnen einzusetzen, war schon damals die bevorzugte Wahl, denn Männer galten als "zu faul und zu unfähig" für die Plagerei. Und so blieb es bis heute.

Indien als Tee-Großmacht

Als die Sirene schrillt, ist es fünf am Abend und Piyari und ihre Leidensgenossinnen schleppen sich mit vollen Säcken zur Sammelstelle, wo sie diese ausleeren und abwiegen. Aufseher notieren, ob auch jede der Frauen ihr Plan-Soll von 18 Kilogramm erfüllt hat. Bis Piyari heimkommt, dämmert es. Im Schein einer Kerze betet sie mit ihrer Familie und dankt dem Herrn für den Tag. Wie alle Dorfbewohner gehört auch Piyaris Familie einer ethnischen Minderheit in Indien an aus der etliche katholisch sind.

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung.
© Simon Kupferschmied ABGERECHNET WIRD AM SCHLUSS. So wie Piyari muss jede der Frauen 18 Kilo an Teeblättern abliefern. Ein Aufseher vermerkt streng, ob auch alle ihr Limit erfüllen

ABGERECHNET WIRD AM SCHLUSS. So wie Piyari muss jede der Frauen 18 Kilo an Teeblättern abliefern. Ein Aufseher vermerkt streng, ob auch alle ihr Limit erfüllen

Nachdem sie Teigfladen zum Abendessen zubereitet hat, plaudert Piyari vor dem Schlafengehen noch mit ihrem Mann. Er arbeitet in der nahen Fabrik. Dort werden die Teeblätter nach der Ernte zum Welken aufgelegt, danach gerollt und fermentiert, wodurch grüner erst zu schwarzem Tee wird. Später folgt das Sieben, Trocknen und Verpacken. Und rasch darauf der Export nach Übersee. Denn Indien ist Tee-Großmacht und nach China der größte globale Produzent. Da Tee das am häufigsten konsumierte Getränk der Welt ist -Österreich liegt mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 33 Litern pro Jahr im Mittelfeld - steckt dahinter ein lukratives Geschäft. Ein Geschäft, von dem wenig bleibt. Zumindest nicht für Piyari und die etwa halbe Million Menschen, die im indischen Bundesstaat Westbengalen im Tee-Anbau schuftet. Mickrig ist ihr Lohn nicht nur aus europäischer Sicht, sondern auch für indische Verhältnisse, wo der Verdienst der Pflückerinnen laut Studien der niedrigste aller Berufsgruppen ist.

Wie bitter der Beigeschmack dieses Tees ist, wird noch klar, als es über Serpentinen hochgeht zu Terrassen, die auf 2.000 Metern Seehöhe liegen. Steil steigt die einzige Straße dorthin an. Flauschig wie ein grüner Teppich, stülpen sich die Teesträucher über die Hänge dazwischen. Beklemmend wirkt nur die Vorstellung, dass sich die Briten einst in Sänften hochtragen ließen, um der Hitzehölle ihrer Hauptstadt Kalkutta zu entkommen und dennoch über die "Unannehmlichkeiten" dieses "barbarischen Transportmittels" klagten -für sie selbst wohlweislich, nicht etwa ihre Träger. Also taten sie, worin sie auch in ihrer Heimat Vorreiter waren, und bauten eine Bahn. Hoch in den Himalaya. Der Rumpelzug fährt bis heute, schnauft sich unter Dampf Kilometer um Kilometer hoch, ist mittlerweile Touristenattraktion, Weltkulturerbe und dient auch, wofür er schon damals taugte: dem Abtransport des Darjeelings.

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung.
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HINAUF IN DEN HIMALAYA. Der Tee gedeiht auf Terrassen in den Ausläufern des Himalayas. Für die Pflückerinnen ist es ein langer, steiler Weg bis dorthin

Nikitas Weg ans Licht

Dieser gilt Kennern als der köstlichste Tee der Welt. Fein im Aroma, in der frühesten Ernte, dem legendären "first flush","mild und blumig". Später, nachdem neue Blätter und Knospen austreiben und der Monsun das Seine tut, "kräftig", "herb-nussig" und "kupferfarben in der Tasse", wie Liebhaber den teuren Tropfen anpreisen. Nur eines bleibt gleich wie bei Piyari und denen, die weiter unten schuften: ihr Lohn und ihr Leid. Wer nicht das Glück hat, auf einer der "Fair Trade"-Teeterrassen zu arbeiten, wo die Pflückerinnen zumindest eine bessere Alters-und Gesundheitsvorsorge erhalten, dem bleibt nichts vom exquisiten Schein des edlen Darjeelings.

"Es ist eine unendliche Plagerei, die einen langsam kaputt macht. Das habe ich bei meiner Mama über all die Jahre gesehen." Das sagt eine junge Frau im adretten grauen Pulli, blaue Krawatte darunter, fesches marinfarbenes Sakko darüber. Sie heißt Nikita, ist 19 Jahre alt und steht für einen Ausweg. Ihrer Mutter wird am nächsten Tag, ähnlich wie zuvor Piyari, kein Wort des Klagens über die Lippen kommen. Es sind erst die Kinder, die begreifen, welch schwieriger Lage sie entkommen müssen, damit sich das Schicksal nicht wiederholt. Und es sind ihre Eltern, die sich nichts mehr wünschen, als dass es ihnen gelingt. "Sonst bist du gefangen wie ein Frosch im Brunnen", sagt ein Mann in weißer Albe, den die Lage der Pflückerinnen umtreibt wie kaum ein anderes Thema: "Sie werden ausgebeutet und mit Hungerlöhnen abgespeist. Obwohl sie so hart arbeiten, hausen sie in armen Hütten, haben oft nicht einmal Strom oder eine Toilette. Und so geht das seit Generationen. Seit sie die Briten hergebracht haben." Der, der so spricht, heißt Father José, ist ein Mann Gottes, ein Salesianer Don Boscos und der Rektor eines ihrer Colleges.

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung.
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NIKITAS NEUES LEBEN. Nikitas Weg schien vorgezeichnet. Wie ihre Mutter würde sie künftig in den Teefeldern schuften. Doch eine Wende führte sie ans College

"Dort hinzugehen, war für mich so realistisch wie eine Reise zum Mond", sagt Nikita ganz ernst, "etwas weit Entferntes, Unvorstellbares. So ein guter Ruf, so eine tolle Ausbildung. Wie hätten sich das meine Eltern, die beide in den Plantagen arbeiten, je leisten sollen?" Der Weg des Mädchens schien vorgezeichnet. Erst ein paar Jahre an der staatlichen Schule: Lesen, Schreiben, ein wenig Rechnen, mehr nicht. Und dann, mit gut Glück, in den Vertrag der Mutter mit der Teeplantage einsteigen, abgeschlossen auf Lebenszeit. Ein Leben, bereits besiegelt, bevor es noch begonnen hat.

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung.
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MIT VOLLDAMPF NACH DARJEELING. Die Briten bauten einst eine Bahn in den Himalaya. Heute ist der Zug UNESCO-Weltkulturerbe und Touristenattraktion

Raus aus der Ausbeutung

Kurz vor Darjeeling geht abrupt heftiger Regen nieder. Was dem Tee guttut, vertreibt Nikita und ihre Klassenkameraden fluchtartig ins Innere des Salesianer-Colleges. Sie hat es tatsächlich geschafft, studiert dort Welthandel und träumt von einer Karriere fernab der Ausbeutung. Dass so etwas möglich ist, hat Father José vorhin auf die Fährte von Robin Hood geführt: "Unsere Colleges zählen zu den besten in ganz Indien. Wir zahlen den Lehrenden gute Gehälter, holen uns Top-Leute und können so hohe Studiengebühren verlangen. Zu uns kommen die Kinder der Plantagenbesitzer. Und zu uns kommen auch die Kinder ihrer Pflückerinnen. Das Schöne ist: die einen zahlen mit ihren Schulgeldern indirekt unsere Stipendien für die anderen."

Father José
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EIN PRIESTER ALS RÄUBER. Fast wie Robin Hood sorgt Salesianer-Pater José dafür, dass die Kinder der armen Teepflückerinnen im Himalaya eine bessere Zukunft haben

An dieser Stelle könnte die Geschichte eigentlich enden, käme nicht auf einmal eine gefährliche Hängebrücke ins Spiel. Sie ist brüchig, einige Bretter fehlen, der Gebirgsbach darunter ist reißend und der Gang darüber entsprechend wackelig. Stella und Ronit zögern nicht lange und überspringen die fehlenden Planken. Auch sie sind die Kinder von Pflückerinnen in Darjeeling und auch sie haben eines der begehrten Stipendien am Salesianer-College ergattert. Was sie nun aber auf eine Mission fernab der Schule, in eine felsige Schlucht und auf einen mehrstündigen Fußmarsch treibt, wird erst klar, als ein Dorf auftaucht. Dort liegt eine weitere der 84 Teeterrassen von Darjeeling. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner berichten dort stolz von ihren Kindern, die so große Fortschritte machen würden. Das verdanken sie Stella und Ronit, die regelmäßig den weiten Weg ins Dorf antreten. "Um etwas zurückzugeben", wie sie sagen, "denn wir haben mit unseren Stipendien eine Riesenchance bekommen. Also kommen wir hierher, um den kleineren Kindern Nachhilfe zu geben, weil wir wissen, wie wenig sie in den staatlichen Schulen lernen." Wie schon vorhin, bei Father José und seinem Robin Hood-Vergleich, ist es ein Deal, den die Salesianer hier abgeschlossen haben: Wachse selbst, aber lass die anderen auf deinem Weg nicht zurück. Lern für dich und tu damit auch etwas für deine Gemeinschaft. Geh vielleicht einmal weg, aber vergiss nie auf Darjeeling, wenn du später einmal in Kalkutta, Delhi oder wo auch immer an einer Tasse teuren Tee nippst. Denn nur du weißt, was darin steckt.

Der Darjeeling: Hinter dem beliebtesten Schwarztee der Welt verbirgt sich eine dunkle Geschichte der Ausbeutung.
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AUF MISSION. Stella und Ronit machen sich auf den Weg in ein entlegenes Dorf. Ihr Marsch führt sie über wackelige Brücken

Der Autor recherchierte für das Magazin "allewelt" im Himalaya. Die Arbeit der Salesianer dort kann durch Spenden an Missio Österreich unterstützt werden.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 5/2024.