Immanuel Kant: Aufforderung zum Denken

Die Ideen des Philosophen Immanuel Kant bestimmen noch heute, 300 Jahre nach seiner Geburt, unser Leben. Ein Brevier durch den Kosmos des Königsberger Philosophen mit der Kant-Expertin Violetta Waibel.

von Immanuel Kant © Bild: IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive

Für Kenner besteht heute kein Zweifel: Ohne Immanuel Kant gäbe es keine Menschenrechte und keine Europäische Union. Der 1724 in Königsberg im damaligen Preußen (heute: Kaliningrad, Russland) geborene Sohn eines Sattlermeisters wurde zum Begründer der modernen Philosophie. Seine Schriften, speziell sein Hauptwerk "Die Kritik der reinen Vernunft"*, waren zu Lebzeiten des Professors für Metaphysik und Logik an der Universität Königsberg Bestseller und ermöglichten ihm den Kauf eines Hauses. Seine Geburtsstadt und deren engere Umgebung hat Kant bis zu seinem Tod am 18. Februar nicht verlassen. Termini wie "Kategorischer Imperativ" sind einer alphabetisierten Gesellschaft ein Begriff. Aber weiß man auch, was sie bedeuten? Was wollte Kant, der den Menschen kompromisslos zum selbstständigen Denken aufforderte, die Menschheit tatsächlich lehren? Wie können wir heute, 300 Jahre nach seiner Geburt, von ihm profitieren? News erstellte mit der Kant-Expertin und Philosophieprofessorin Violetta Waibel ein Brevier.

»Wir hätten keine Menschenrechte, keine Europäische Union ohne Kant«
© Foto Wilke Violetta Waibel, Professorin für Europäische Philosophie und Continental Philosophy an der Universität Wien, Kant-Expertin

Warum sollen wir heute Kant lesen?

Wie können wir Kants Philosophie auf unser Leben heute anwenden?

Unser ganzes Denken ist durchtränkt von Kantischen Ideen. Wir hätten keine Europäische Union im heutigen Sinne. Wir hätten keine Menschenrechte, wenn man sich nicht an der Philosophie im Allgemeinen und an Kants Philosophie im Besonderen orientiert hätte. Wir hätten ein völlig anderes Verständnis von Freiheit. Der Terminus "Freiheit" ist tragend für Kants Philosophie. Es gibt strengere und weniger strengere Begriffe von Kants Begriff der Freiheit. Aber Freiheit heißt auch: Wir sind keine Automaten. Wir reagieren nicht fremdgesteuert durch andere. Doch das passiert immer wieder, denn wir lassen uns sehr gerne verführen von allen möglichen Dingen, etwa von Kaufanreizen oder anderen Manipulationen. Aber wir haben auch die Möglichkeit, uns davon frei zu machen. Wer manipuliert, macht den anderen sozusagen zu einer Art Automat. Und der Automat funktioniert, wenn der andere sich manipulieren lässt. Wenn ich aber merke Hoppla, was geht denn da vor sich? Da ist eine Überredung am Werk. Dann fange ich an, als freies Vernunftwesen nachzudenken und kann mich von einer solchen Manipulation distanzieren und sagen, Nein, mit mir nicht. Wir ahnen gar nicht, wie sehr wir Philosophie oder die Aufklärungsphilosophie insgesamt ständig und im täglichen Leben anwenden.

Kategorischer Imperativ

Auch wer keine einzige Schrift von Kant gelesen hat, kennt den Begriff "kategorischer Imperativ". Könnte man diesen Satz, "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde", nicht ganz einfach mit der sogenannten Goldenen Regel, "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu", übersetzen?

Daran kann man sich zunächst orientieren. Aber der kategorische Imperativ ist eine Formel für Kants Sittengesetz. Gern nennt man ihn auch eine leere Formel. Aber er ist natürlich nicht leer. Denn er sagt etwas aus, nämlich wir sollen uns sittlich verhalten. Er fordert in seiner Moralphilosophie, dass Menschen ihr Handeln am Sittengesetz ausrichten, wo immer moralisches sittliches Handeln gefordert ist. Das bedeutet, dass mein Handeln von der Art sein soll, dass es nicht auf meine privaten, egoistischen Interessen ausgerichtet ist. Zum Beispiel: Ich will jetzt sehr viel Geld haben, deswegen handle ich so oder so, ohne Rücksicht auf die Verluste anderer. Handle ich hingegen rücksichtsvoll und nach rechtmäßigen Möglichkeiten, Geld zu erwerben, so bedeutet dies, dass ich mich an dem orientiere, was ich auch von einem anderen erwarte. Die Goldene Regel, die Kant empirisch nennt, geht dabei vom eigenen Wohl aus und das würde nicht einem Denken entsprechen, das die Handlungsmaxime zu einem allgemeinen Gesetz nach der Forderung des kategorischen Imperativs macht. Ich handle dann aus moralischem Antrieb, wenn ich mein Ziel allein an sittlichen Maßstäben orientiere. Kant wäre wahrscheinlich zufrieden, wenn Menschen, die diese Abstraktionsgänge nicht leisten können, sich an diese empirische Formel der Goldenen Regel halten.

Dann wäre es natürlich pragmatisch gesehen zunächst ganz in Ordnung, dass man sich überhaupt an so etwas hält. Denn das ist ja schon eine empirische Garantie für sittliches Verhalten. Kant aber macht den spannenden Unterschied in seiner Moralphilosophie, dass er moralisches von legalem Verhalten unterscheidet. Legales Verhalten orientiert sich an verschiedenen Dingen. Zum Beispiel: Ich hätte zwar große Lust, etwas zu stehlen, mache es aber nicht, weil es mir schrecklich peinlich wäre, wenn ich erwischt werde. Kant würde dazu sagen: Na gut, wenn man sich nicht zu der reinen Gesetzlichkeit erheben kann, dann ist das ein vorläufiger Weg zur Sittlichkeit. Aber dieses Verhalten ist ein bloß legales sittliches Verhalten. Der Leitsatz des kategorischen Imperativs ist aus der reinen Idee des Moralischen und der Sittlichkeit überhaupt gedacht. Kant hat mit dem kategorischen Imperativ die Forderung aufgestellt, dass man sich von vornherein auf einer Ebene der Verallgemeinerbarkeit und der Gesetzesmäßigkeit verhält. Denken wir an die Grundgesetze. Nach diesen sind alle Menschen gleich. Ich frage nicht, was der Einzelne ist, ob er eine bedeutende Persönlichkeit ist oder am Rande der Gesellschaft steht. Es geht darum, dass ich alle Menschen vor dem Gesetz als gleich ausweise.

Kritik der reinen Vernunft

Mit Kant verbinden die meisten die "Kritik der reinen Vernunft", doch die wenigsten haben das Werk gelesen. Was lehrt uns diese?

Kant hat drei Kritiken geschrieben. "Die Kritik der reinen Vernunft", "Die Kritik der praktischen Vernunft" und "Die Kritik der Urteilskraft". Die erste ist Kants Gerichtshof der Vernunft, wie er diese auch genannt hat. Diese Metapher ist unglaublich faszinierend und schön. Dieser Gerichtshof der Vernunft beinhaltet Kants Erkenntnistheorie und ist der Ort, an dem geprüft wird, ob man das, was man als Wissen ausweist, verallgemeinern kann oder ob es sich um bloße Meinungen handelt. Kant hat sich vor allem an der Physik orientiert. Newton war sein großes Vorbild. Naturwissenschaft versucht, die Gesetze und Gesetzmäßigkeiten in der Natur zu erforschen, damit wir sozusagen nicht jeden Einzelmoment separat untersuchen müssen, sondern Gesetzmäßigkeiten in den Abläufen der Natur herausfinden. Kants Erkenntnistheorie begründet naturwissenschaftliche Erkenntnis und kann Auskunft geben über die Grade der Verbindlichkeiten von Wissensansprüchen. Das reicht von subjektiv privatem bis objektivem, allgemein notwendigem Wissen. Wenn ich zum Beispiel sage, ich bin wütend, weil …, ist das eine subjektiv private Einstellung. Es gibt aber auch Situationen, etwa permanente und mutwillig hingenommene Menschenrechtsverletzungen, die wütend machen, und daher nicht bloß subjektiv privat sind, sondern objektiv und allgemein. Um zwischen subjektiven Urteilen und objektiven Urteilen unterscheiden können, gibt es Kants Erkenntnistheorie. Doch zwischen dem Subjektiven und Objektiven gibt es sehr viele Schattierungen.

Kant hat diese Erkenntnistheorie geschrieben, die nach dem Ursprung, dem Umfang und den Grenzen unserer Erkenntnis fragt. Denn in unserem Denken gibt es viele Grenzen. Es gibt Dinge, die können wir nicht erkennen. Zum Beispiel die Existenz Gottes. Kant hat die traditionellen Beweise der Existenz Gottes widerlegt. Aber er konnte nicht zeigen, dass es keinen Gott gibt. In moralisch praktischer Perspektive konnte Kant akzeptieren, dass wir von einem Postulat Gottes sprechen und Menschen sich in ihrem sittlichen Verhalten zunächst auf die Autonomie der reinen praktischen Vernunft und zudem auf Gott berufen.

Eigenständigkeit und Freiheit

Stimmt es, dass Kant die Menschen zur Eigenständigkeit erziehen wollte?

Das kann ich unterschreiben. Das hat auch genau mit dem Terminus zu tun, den ich verwende, nämlich "Freiheit". Kant spricht von der Freiheit, er spricht von der Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Das ist auf seine Moralphilosophie bezogen. Denn wir sind autonom, wie wir uns zu unserem Verhalten, zu unserem Handeln stellen. In seiner Schrift "Was ist die Aufklärung", finden wir dieses oft zitierte Schlagwort "Sapere aude!" ("Wage, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"). Das heißt, im emphatischen Sinne Dinge zu durchdenken und nicht bloß irgendetwas daherzuplappern und herauszuposaunen, sondern die Dinge zu durchdenken. Ich soll darauf vertrauen, dass ich dann, wenn ich denke, in aller Regel zu einem guten Resultat komme. Und wenn einmal nichts Gutes herauskommt, dann gibt es andere, die denken und mich korrigieren. Wer echt denkt, akzeptiert dann auch einen solchen Einwand.

Immanuel Kant
© IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive REVOLUTIONÄRER DENKER. Immanuel Kant (22. April 1724–12. Februar 1804). Der Sohn eines Sattlermeisters wurde zum Begründer der modernen Philosophie. Kompromisslos forderte er selbstständiges Denken ein

War Kant Pazifist?

Kant macht in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" deutlich, dass damit alle Kriege auf einmal zum Stillstand gebracht werden sollen, zumindest in der Idee. Kant ist natürlich Realist genug und weiß, mit einer Schrift allein ist es nicht getan. Aber er ist natürlich auch der Idealist, der sagt, jeder muss daran mitwirken, jeder muss richtig entscheiden, wenn er zum Beispiel zu einer Wahl geht. Jeder muss etwas dazu beitragen, dass wir Republiken schaffen. Heute nennen wir das Demokratien. Die Republik bei Kant ist schon im Kern eigentlich dasjenige, was eine gut funktionierende Demokratie ist. In Demokratien ist es relativ unwahrscheinlich, dass ein Volk über sich selbst beschließt, dass es Krieg führt. Der einzige Krieg, der für Kant zulässig ist, wenn es keine Alternative gibt, ist der Verteidigungskrieg. Dafür argumentiert er auch sehr klar und beeindruckend. Kriege werden geführt von irgendwelchen Kriegsherren, die dann in ihren Schlössern sitzen und die anderen, die Bürger und Soldaten, heute auch Bürgerinnen und Soldatinnen, lassen sich für deren Vorhaben verwunden oder sterben sogar dafür. Kein Volk, das ein gutes gemeinsames Leben entwickelt hat, wird über sich selbst bestimmen, dass es Krieg führen willl. Aber dafür braucht man Bürger, die mündig sind.

Kant wusste, ohne Selbsttätigkeit, ohne Engagement, ohne verantwortliches Handeln werden wir keinen allgemeinen und umfassenden Frieden schaffen. Kant war nicht immer der Vertreter eines ewigen Friedens, der er dann mit dieser Schrift geworden ist. Denn die Menschen haben damals mit der Vorstellung gelebt, sind dazu erzogen worden, jetzt müsse man mal Krieg führen. Das gilt auch für Kant. Er musste sich zunächst von diesem Wahnsinn, der für die Gesellschaften von damals oft Gewohnheit war, distanzieren und eine andere Perspektive entwickeln. Das machte möglich, dass er dann auch diese großartige Schrift geschrieben hat, in der er sich auch gegen stehende Heere gewandt hat.

Kant und künstliche Intelligenz

Wenn wir weiterhin unsere Urteilskraft wirklich schulen, dann wird uns auch die künstliche Intelligenz nicht unterjochen. Denn wir sind es, die diese Programme in Gang setzen. Die künstliche Intelligenz kann uns sehr viele Dinge abnehmen, die wir mit der Art und Weise, wie unser Denken beschaffen ist, niemals in dieser kurzen Zeit erledigen könnten. Aber wir sind immer noch diejenigen, die kreativ denken können. Wir verfügen über reflektierende Urteilskraft. Ich wage zu behaupten, dass die künstliche Intelligenz, ob Deep Learning oder was auch immer, nicht in der Lage ist, unsere Art von reflektierender Urteilskraft auf den Weg zu bringen. Kant hat in der dritten Kritik, in seiner "Kritik der Urteilskraft", sehr spannend unterschieden zwischen "bestimmender und reflektierender Urteilskraft". Die reflektierende Urteilskraft ermöglicht das eigentlich Kreative in Kants Theorie vom Schönen und Erhabenen, vor allem auch in der Kunst. Den Künstler hat Kant, gemäß der Zeit, als Genie bezeichnet. Eine sehr griffige Formel für das Genie bei Kant ist die, wonach die Natur des Genies, des Künstlers, der Künstlerin, der Kunst die Regeln gibt. Das heißt, große Künstler, Genies finden ganz neue Lösungen für bestimmte Dinge. Es ist der innere Schaffensdrang, der mit dem Material, mit dem man arbeitet, etwas Neues schafft. Ob das jetzt mit Pinsel und Leinwand ist oder mit Meißel und Stein oder mit Bronze oder mit künstlicher Intelligenz. Das ist eigentlich fast einerlei. Insofern, als die reflektierende Urteilskraft mit diesen Werkzeugen etwas Neues, Kreatives schafft, das es vorher nicht gegeben hat.

Kant verstehen und mit Vergnügen lesen

Mit seinem Essay "Was ist Aufklärung?" Oder auch mit der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". In beiden Schriften findet, dass Kant den Leser ein bisschen an der Hand nimmt und zu einem philosophischen Denken führt. Das ist anspruchsvoll geschrieben, aber was bei Kant hilft, sind die Überschriften. Das klingt trivial, aber das ist es nicht. Dann bei Kant muss man diese Übertitel immer mitlesen und mitdenken und überlegen, Was will Kant mir jetzt sagen? Er schreibt teilweise redundant und wiederholt sich. Aber das hat sehr viel mit seiner didaktischen Fähigkeit zu tun. Wiederholt fasst er seine bisherigen Gedankengänge zusammen und erweitert sie dann. Wenn man sich ein bisschen tiefer hineingearbeitet hat, kann es richtig Spaß machen, Kants Texte zu lesen, so kompliziert sie auch sind.

Bücher zu Kant

© beigestellt

Immanuel Kant: Werkausgabe in 12 Bänden: Das Hauptwerk wie die drei "Kritiken" oder der Aufsatz "Zum ewigen Frieden" sind auch in Einzelbänden erhältlich. www.suhrkamp.de

© beigestellt

"Der bestirnte Himmel über mir"* – Erhellendes über Kant: der Weltautor Daniel Kehlmann im Gespräch mit dem Philosophen Omri Boehm. Propyläen, € 27,50

© beigestellt

Wie Kant in die Gegenwart wirkt und den denkenden Menschen ins Zentrum rückt, erläutert der Philosoph Marcus Willaschek gut verständlich in "Kant""*. C. H. Beck, € 29,50

© beigestellt

Wie Goethe, Schiller und Hölderlin auf Kant reagierten, erkundet Violetta Waibel u. a. in: "Verwandlungen. Dichter als Leser Kants". Brill, € 68,95

© beigestellt

Wie wir uns an Kants Aufsatz „Zum ewigen Frieden“ heute orientieren können, ergründet Alfred J. Noll in „Ewiger Friede oder ewiger Krieg?“* bahoe books, € 19,50


Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 17/2024 erschienen.

Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind Affiliate-Links. Wenn Sie auf so einen solchen klicken und über diesen einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.