Zu spät. Und jetzt?

Die Arbeitskräfte von morgen lernen in der Schule von gestern. Das kann nicht gut gehen. Doch der gesellschaftliche Aufschrei bleibt noch immer aus

von Kathrin Gulnerits © Bild: News/Matt Observe

Es war nur eine Randnotiz, die vor ein paar Tagen aufpoppte. Mit ihr ist passiert, was mit Randnotizen meistens passiert: Man hat kaum Notiz von ihr genommen. Dabei wurde hier Bilanz gezogen von etwas, das das Bildungssystem bei der Einführung vor zehn Jahren zwar nicht revolutionieren, aber doch verbessern sollte. Mit einem ausgeklügelten, klugen Konzept. Es war die Geburtsstunde der Neuen Mittelschule, die damals die Hauptschule ersetzte. Ein Kompromiss. Und ja, über weite Strecken praxisfern. Dass die Rechnung mit zwei Lehrkräften in einem Hauptfach nicht aufgehen kann, war jedem klar, der das System Schule kennt. Auch das Gerede von einer „neuen Lernkultur“, „individuellen Lerngruppen“, von „EntwicklungsbegleiterInnen“ und dem „Eingehen auf jedes Kind“ hätte man sich sparen können. Aber immerhin schien es seinerzeit einen Plan zu geben, wie man den Defiziten im Bildungssystem begegnen kann.

Die Zehnjahresbilanz dieses einstigen Prestigeprojekts in eben dieser Randnotiz fällt ernüchternd aus. Weder sind die Leistungen durchgängig gestiegen, noch hat sich die Bildungsgleichheit verringert. Hinzu kommt: Schüler mit Migrationshintergrund sind noch öfter an den NMS und noch seltener an AHS-Unterstufen zu finden als zuvor. Die Antwort seitens der Politik? Stumme Kenntnisnahme. Dabei geht es um jene Mittelschulen, die ab sofort ein weiteres ungelöstes Problem handhaben müssen: den Zuzug von Angehörigen von Asylberechtigten aufgrund von Familienzusammenführung. Unter den rund 9.000 Anträgen im Vorjahr befanden sich allein in der schulpflichtigen Gruppe der sieben- bis 13-Jährigen 2.282 Antragsteller. Die Folge: Schulplätze werden knapp. Und das in einem System, das vielerorts ohnehin schon am Anschlag arbeitet – und dabei reihenweise Bildungsverlierer produziert. Mit Ansage. Ein Viertel der 15-Jährigen kann nach der Schule nicht sinnerfassend lesen, belegen Studien. Wir haben Kinder, die ohne Grundkompetenzen die Schule verlassen, klagte unlängst der Bildungsminister. In der Problembenennung sind wir gut. Im Fingerzeig auf andere auch. Und sonst? Ambitionen oder gar Visionen? Fehlanzeige. Das „Bildungskapitel“ im Österreich-Plan des Kanzlers umfasst 28 Zeilen. In der Prioritätenreihung kommt Bildung nach Landwirtschaft, Tourismus, Sport, Mobilität und Ehrenamt vor.

»Wer fordert ein Bildungszuckerl statt ständiger Pensionszuckerl?«

Das alles könnte man jetzt belächeln, wohl wissend, dass es ja schon immer so war – und sich irgendwie immer ausgegangen ist. Doch diese Zeiten sind vorbei. Die Arbeits- und Fachkräfte von morgen lernen in einer Schule von gestern. Das, was wir heute Familie nennen, hat mit dem Bild von vor ein paar Jahrzehnten nichts mehr zu tun. Damals, als „divers“ ein Fremdwort und Migration ein lästiges Übel war. Die Herausforderungen und Anforderungen im Hier und Jetzt verlangen nach neuen Fragen und Antworten. Wo ist der Ruf nach einem Bildungs-Krisenmanagement, das auf eine Migrationsgesellschaft ausgerichtet ist?

Wo ist der Aufschrei der Wirtschaft? Wer fordert zur Abwechslung ein „Bildungszuckerl“ statt ständiger „Pensionszuckerl“? Wo ist die Debatte, was es für unseren Wohlstand heißt, wenn wir es uns weiter erlauben, offensichtliche Probleme nicht und jedenfalls viel zu spät anzugehen? Die gesellschaftsrelevante Dimension von Bildung findet sich in den Debatten nicht wieder – weder in der Politik noch am Stammtisch. Dabei ist Bildung ein Thema, das alle betrifft. Nicht nur jene, die Kinder in der Schule haben. Es sind genau diese Kinder, die jetzt in den Volksschulen sitzen, die schrittweise das System aufrechterhalten müssen. Unseren Wohlstand, unser Zusammenleben. Jeder Einzelne von ihnen zählt. Ob uns das ideologisch passt oder nicht.

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