A leiwande Oide

Weltstadt und dennoch ganz entspannt: Eine große Liebeserklärung an Wien

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Leben - A leiwande Oide

Vielleicht ist es also gar keine gute Idee, einen im Favoritner Kaiser-Franz-Josef-Spital geborenen Wiener eine Liebeserklärung an seine Stadt schreiben zu lassen. Andererseits: Bevor’s ein G’scherter übernimmt, mach’ ich’s lieber selber. Außerdem meint es der Wiener ja nicht so. Er liebt seine Stadt so abgöttisch, dass er ihr hoffnungslos verfallen ist. Manchmal wirft er ihr das dann halt vor.

Schon der Name klingt gut: Wien. In dieser Silbe steckt vieles, was die Stadt ausmacht. Es fängt mit dem wuchtigen "W“ an und hört mit dem weichen "n“ auf; dazwischen nimmt ein langes "i“ das Tempo raus. Und dass "Wien“ ein Anagramm von "Wein“ ist, kann auch kein Zufall sein.

200 Weinbauern

Dass in einer Großstadt Wein - und zwar gar nicht so wenig - angebaut wird, ist etwas Außergewöhnliches. Wien-Tourismus-Geschäftsführer Norbert Kettner erzählt, wie er auf einer Veranstaltung in São Paulo einmal damit gepunktet hat. "Wir haben 14 Michelin-Sterne-Restaurants!“, prahlte ein Berliner Kollege. "Wir haben nur drei oder vier“, konterte Kettner. "Aber dafür haben wir 200 Weinbauern!“ Damit war das Match entschieden.

Wirtshäuser , Heurigen und Gastgärten

Der Heurigenbesuch gehört für Wien-Touristen zum Pflichtprogramm, und wenn sie dabei nicht gerade in eine Touristenfalle tappen, ist das auch richtig so. Wenn ich gefragt werde, was ich an Wien liebe, fallen mir als erstes trotzdem nicht die Heurigen, sondern die Wirtshäuser ein. Der urige Lindwurm an der Lainzer-Tiergartenmauer, in dessen Gastgarten ich große Teile meiner Adoleszenz verbracht habe. Der Herlitschka im dritten Bezirk, erste Adresse nach Besuchen im Akademietheater oder im Konzerthaus. Das Haas-Beisl neben dem Filmcasino, in dem sich nicht nur die zahlreichen Stammgäste sichtlich wohlfühlen.

© www.picturedesk.com Wiener Heuriger

Geliebte Innenstadt

In der Innenstadt fällt mir der Reinthaler in der Gluckgasse ein, wo noch Gerichte wie Augsburger mit Dillfisolen und Rösti auf der Karte stehen und man immer einen Platz findet, obwohl das Lokal immer voll ist. Oder der Czaak in der Postgasse, wo abends mindestens einmal ein Georg-Danzer-Lied aus den Boxen kommt und das Gewand binnen Sekunden den Geruch von vielen tausend Schnitzeln annimmt. (Ein Bekannter war dort einmal nur Zigaretten kaufen und wurde von seiner Tochter daheim vorwurfsvoll mit "Du warst beim Czaak!“ begrüßt.)

Deftige Küche

Für viele Gäste dürfte ein Besuch in einem Wiener Lokal den Charakter einer Mutprobe haben. Zwar wird irgendwann angeblich auch hier das allgemeine Rauchverbot eingeführt werden, aber auf den Speisekarten steht nach wie vor alles, was uns die Ernährungsberater eigentlich längst verboten haben: Die Wiener Küche ist deftig, fleischlastig und im Zweifelsfall paniert. Erlaubt ist grundsätzlich alles, was schmeckt.

Wurstelprater weckt Kindheitserinnerungen

Nur wer in Wien Kind war, kann die tiefe Liebe nachempfinden, die der Wiener lebenslang für den Wurstelprater empfindet. Der alljährliche Praterausflug gehört zu den Highlights jedes Wiener Kinderlebens, und die Sensation, dass da mitten in der Stadt eine Wunderwelt voller Attraktionen existiert, verliert nie ganz ihre Strahlkraft. Das Schweizerhaus ist ja nicht nur deshalb so beliebt, weil das Budweiser dort so süffig ist und die Stelzen so knusprig sind. Es liegt auch daran, dass es dem herangewachsenen Wiener die willkommene Gelegenheit bietet, wieder einmal in den Wurstelprater zu gehen. Kinder nehmen den Schweizerhausbesuch in Kauf, weil sie sonst nicht Autodrom fahren könnten. Irgendwann ist es dann halt umgekehrt.

Ich liebe den Wurstelprater, und dass ich nie im Sexmuseum war, gehört zu den großen Versäumnissen meiner Wien-Biografie. Fast noch besser aber gefällt mir der kleine Bruder des Wurstelpraters: der Böhmische Prater am Laaer Berg. Hier ist alles ein paar Nummern kleiner: die Hochschaubahn, das Riesenrad, der Biergarten. (Obwohl das Budweiser im Bierstadl fast so gut schmeckt wie im Schweizerhaus.) Ein Besuch im Böhmischen Prater, wo manche Attraktionen fast 100 Jahre alt sind, ist eine Zeitreise. Eigentlich unglaublich, dass es so etwas noch gibt.

Nahe am Wasser gebaut

Schön ist auch, dass Wien so nah am Wasser gebaut ist. Mit der U-Bahn ist man vom Stephansplatz in ein paar Minuten auf der Donauinsel oder an der Alten Donau, Wien-Profis verbringen ihre Sommer nicht an der Adria, sondern etwa im riesigen Strandbad Gänsehäufel. Für Nacktbader gibt es hier einen großen FKK-Bereich (die Wiener sind da erstaunlich locker), und besonders Privilegierte sind Mieter einer sogenannten "Kabane“; die kleinen Badehäuschen aus den 1940er-Jahren sind allerdings auf Jahre ausgebucht.

Bescheidene Weltstadt

Vor zwei Jahren hat Wien einwohnermäßig Hamburg überholt und ist jetzt - hinter Berlin - die zweitgrößte Stadt des deutschen Sprachraums. Derzeit wohnen knapp 1,8 Millionen Menschen in der Stadt, in rund 15 Jahren soll die Zwei-Millionen-Marke überschritten werden. Das ist nicht wenig, aber komischerweise hat man trotzdem nicht das Gefühl, in einer Weltstadt zu leben. Das liegt erstens daran, dass Wien so übersichtlich angelegt ist, und zweitens am gemäßigten Tempo der Stadt.

Aufrissschmäh Wiener

Der Minderwertigkeitskomplex, den die Wiener nach dem Untergang des Habsburgerreichs zur Perfektion entwickelt haben, scheint nach fast hundert Jahren überwunden. Bands wie Wanda oder Bilderbuch sind auch in Deutschland gerade das ganz große Ding. Angeblich ist es auf deutschen Partys derzeit sogar ein erfolgversprechender Aufrissschmäh, auf Wiener zu machen. Man kann sich das konkret zwar nur schwer vorstellen, aber schon allein, dass das G’schichtl überhaupt kursiert, spricht dafür, dass sich da etwas verändert hat.

Stadt voll dunkler Geheimnisse

Als die Luxusautomarke Rolls-Royce 2009 ihr sportliches Modell "Ghost“ auf den Markt brachte, fand die Präsentation nicht in einem englischen Schlosspark oder einer Jet-Set-Location wie Monte Carlo statt, sondern in Wien. Wien-Tourismus-Chef Kettner hat den Marketingleiter von Rolls-Royce damals gefragt, wie sie denn auf Wien gekommen seien. Die Antwort war interessant. Der "Ghost“ sei ein elegantes Auto, dem man seinen bösen 600-PS-Motor nicht ansieht, und Wien sei eine schöne Stadt voll dunkler Geheimnisse. Die Rolls-Royce-Leute hatten dabei vermutlich den "Dritten Mann“ im Kopf, der Wiener denkt eher an den "Herrn Karl“ oder andere Abgründigkeiten.

Aber stimmt das Bild überhaupt noch? Zumindest in den gentrifizierten Gegenden rund um Nasch-, Karmeliter- oder Brunnenmarkt, im Museumsquartier oder in den Strandbars entlang des Donaukanals sieht Wien heute wie eine ganz normale, lebensfrohe westliche Großstadt aus. Und das ist gut so! Wer aber den Geist von Wien spüren möchte, muss sich an die Ränder begeben. Obwohl es da auch Grenzen gibt. "Der Floridsdorfer Spitz ist noch Wien“, findet Ernst Molden, "aber die Seestadt Aspern noch lang nicht.“

Der See in der Seestadt Aspern
© Bernhard Siquans/ STM Seestadt aspern Seestadt Aspern

Die Tschocherln

Ganz Mutige wagen sich in eines der unzähligen "Tschocherln“ der Stadt. Das sind diese kleinen Lokale, die alle Espresso Rosi oder ähnlich heißen und ausschließlich von melancholischen Spiegeltrinkern und tapferen Kettenrauchern frequentiert werden.

In seiner wunderbaren, zuerst im "Augustin“ und jetzt im "Falter“ veröffentlichten Serie "Tschocherl-Report“ berichtet Arthur Fürnhammer von einem Pensionisten, der sein Leben in einem Simmeringer Tschocherl verbringt; weil er nicht mehr so gut zu Fuß ist, führt ihn seine Frau in der Früh hin, nach der Sperrstunde bringt ihn irgendein Gast, manchmal auch der Wirt, wieder heim. "I werd do bleiben, bis i stirb.“

Ich habe Respekt für so extreme Lebensformen. Und es spricht viel dafür, dass Wien nirgends so authentisch gelebt wird wie in diesen Spelunken. Aber so weit, dass ich selbst zum Tschocherlgeher werde, geht meine Liebe zu Wien dann doch nicht.

Ich geb’s zu: Ich bin ein Weh von einem Wiener. Ich bin im beschaulichen Unter St. Veit aufgewachsen und wohne heute mitten im schicken siebenten Bezirk. Aber obwohl mir die Bobos dort hin und wieder auf die Nerven gehen, lebe ich gern da. Wenn ich Sehnsucht nach dem echten Wien habe, fahre ich mit dem 48A nach Ottakring, setze mich in einen Gastgarten und weiß: Es ist Liebe.

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