Wo bleibt unser Mitgefühl?

Terror, Katastrophen - aber immer weniger Reaktionen. Verlieren wir unsere Empathie?

290 Tote bei unserem Lieblingsnachbarn. In dem Land, in dem wir Sommer für Sommer Zeit verbringen, und dessen Küche wir so lieben. Wir sehen die Bilder von Zerstörung und Tod, wir lesen die Berichte - aber etwas fehlt. Mitgefühl auf Facebook & Co? Fehlanzeige. Wie kann das sein?

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Abgestumpft - Wo bleibt unser Mitgefühl?

Mittelitalien wird von einem furchtbaren Erdbeben erschüttert. Mindestens 290 Menschen verlieren ihr Leben. Bilder zerstörter Häuser und unermüdlicher Helfer überfluten die Medien. Doch eine Sache fehlt. Das offen zur Schau getragene Mitgefühl in den Sozialen Medien, an das man sich in den vergangenen Jahren fast schon gewöhnt hat. Außerhalb Italiens ändert kaum jemand sein Profilbild oder schreibt darüber, wie sehr man mit den Lieblingsnachbarn fühlt.

Ein Blick zurück. Auch am 6. April 2009 wurde Mittelitalien von einem schlimmen Erdbeben heimgesucht. 308 Menschen verloren im Zuge der Naturkatastrophe ihr Leben. Auch damals las man verhältnismäßig wenig über das Unglück auf Facebook & Co.

Die gute, alte Facebook-Zeit

Es war die Zeit, bevor Hashtags, temporär geänderte Profilbilder und Memes die Sozialen Medien übernahmen. Bevor Medienunternehmen wussten, wie sie diese nutzen konnten, um das Geschriebene näher an ihre Leser zu bringen. Damals postete man noch vorzugsweise und ohne schlechtes Gewissen Urlaubsbilder, Musikvideos oder "Oje, heute mit Kopfweh aufgewacht"-Statusmeldungen. Stellung bezog man maximal, wenn es darum ging, ob man für Rapid oder Austria die Daumen drückte. Weltgeschehnisse kommentieren? Das geschah vielleicht einmal am Tag einer Wahl oder wenn der Lieblingsschauspieler einen Oscar bekam.

An Mitgefühl mit den Erdbebenopfern schien es 2009 trotzdem nicht zu mangeln. Man zeigte es nur anders, etwa durch finanzielle Spenden oder die Teilnahme an Solidaritätsveranstaltungen. Und auch wenn damit zu rechnen ist, dass die Österreicher jetzt ebenfalls Spendenaufrufen folgen werden, hat sich doch etwas verändert. Etwas, das nur auffällt, wenn man sich vor Augen führt, wie in den letzten Jahren Empathie vermittelt wurde. Heute gilt: Helfen ja, aber öffentlich sein persönliches Mitgefühl zeigen? Fehlanzeige. Zwischen 2009 und 2016 ist viel passiert. Für einige wohl zu viel.

»Helfen ja, aber öffentlich sein persönliches Mitgefühl zeigen? Fehlanzeige.«

Die Art und Weise, wie wir Facebook nutzen, hat sich in den vergangenen sieben Jahren verändert. Postete man früher vor allem Privates, so wurde es nach und nach immer stärker zur einer Plattform, um der Welt seine Meinung entgegenzuschleudern. "Das interessiert mich!" "So seh ich das!" "Das müsst Ihr lesen!" Oder auch: "So schrecklich!" "Hier fühle ich mit!" "Das bewegt mich!" Die Strandfotos aus Griechenland und herzige Katzenvideos wurden von Mitleidsbekundungen, Leseempfehlungen und Meinungsstatements abgelöst.

Die großen Wellen des Mitgefühls

In 2015 erreichte diese Entwicklung wohl bei zwei Themen ihren Höhepunkt. Monatelang beherrschte einerseits die Flüchtlingskatastrophe die Sozialen Medien. Wer eine klare Meinung hatte, tat diese hier kund. "So muss man helfen", "Dort habe ich geholfen" oder "Das kann doch so nicht weitergehen" - Anschuldigungen, Belehrungen, Diskussionen und Selbstdarstellung, so weit der Newsfeed Platz hergab. Dazwischen aber auch: eine große Welle des Mitgefühls.

Neben der Flüchtlingsthematik wurde das Jahr 2015 auf Facebook andererseits klar vom Terror beherrscht. Und hier zogen die User stärker an einem einheitlichen Strang. Als am 7. Januar 2015 auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" ein Anschlag verübt wurde, war die Welt nicht nur erschüttert, sie zeigte es auch. "Je suis Charlie Hebdo"-Schriftzüge auf Titelbildern und Profilfotos in der virtuellen Welt, Blumenmeere in ganz Europa in der realen Welt.

»Die Welt war erschüttert. Und sie zeigte es auch.«

Bei den Terroranschlägen von Paris im November des gleichen Jahres wurde dieses intensive Zeigen von Mitgefühl noch übertroffen. "Je suis Paris"-Sujets, Memes gegen den Terror und in den Farben der Tricolore eingefärbte Profilbilder überschwemmten förmlich das Internet. Die Empathie war so greifbar wie selten zuvor. Die Welt rückte zusammen, trauerte gemeinsam, fühlte mit den Opfern und einem ganzen Land. Via Facebook war all das möglich.

Ein Wahnsinn nach dem anderen

Bevor das Entsetzen über Paris noch richtig Zeit hatte, um abzuebben, waren da allerdings schon die nächsten Vorkommnisse. Die Terroranschläge von Brüssel. Und Nizza. Dann Deutschland. Dazwischen Attentate in der Türkei. Und in den Sozialen Medien: immer weniger davon zu lesen. Immer weniger "Je suis"-Bilder, immer weniger Profilbild-Änderungen oder Schockbekenntnisse. Es scheint, als hätte man sich an den Terror gewöhnt. Als wäre man nach und nach abgestumpft.

Das große Entsetzen bleibt zwar nicht aus, es hält jedoch nicht lange an. Ein Schock, ein Stich, vielleicht auch ein wenig Sensationslust, sobald man von einem weiteren Vorfall hört. Dann der unwillkürliche Gedanke: "Schon wieder so etwas". Gefolgt von einem "Ich habe das so satt". So gab es nach der Schießerei von München vor allem einen Schriftzug, den man online immer wieder las: "Je suis so sick of this shit" ("Ich habe diesen Dreck so satt"), in Anspielung auf die "Je suis"-Statements bei vergangenen Attentaten.

»Je suis so sick of this shit.«

"Die Zeiten haben sich geändert. Wir müssen lernen, mit dem Terrorismus zu leben", sagte der französische Premierminister Manuel Valls am Tag nach dem Nizza-Attentat. Aber müssen und wollen wir das wirklich? Ist es der richtige Weg, nach und nach abzustumpfen und sich einfach damit abzufinden, das solche Dinge passieren können? Die Angst einfach auszublenden?

Abstumpfen? Menschlich!

Fakt ist: Dieses Verhalten ist menschlich. Wer von einem Schockzustand in den nächsten stürzt und stets mit der gleichen Intensität mitleidet, wird in Zeiten wie diesen seines Lebens nicht mehr froh. Es ist gesund, sich abzugrenzen. Anfang des Jahres gaben 66 Prozent der Österreicher bei einer Umfrage an, sich vor Terror zu fürchten. Und auch wenn man weiß, dass statistisch gesehen die Chancen, Opfer eines Anschlags zu werden, noch immer gering sind, wird das Gefühl der Machtlosigkeit nicht kleiner. Ratschläge wie das Meiden großer Menschenansammlungen lassen sich nicht immer umsetzen. Rationale Argumente helfen meist nur oberflächlich. Sich von der Furcht und dem Gesehenen mental abzugrenzen, ist da schon weit effektiver.

Ein Aspekt ist auch die oft brachial vorgetragene Kritik an der öffentlichen Solidaritätsbekundung. "Da fürchten sich die Terroristen aber, wenn Ihr alle Eure Bilder in der Tricolore einfärbt!" Oder aber: "Dieses 'Je suis'-Zeugs macht die Menschen auch nicht wieder lebendig!" In "Hallo, worum geht's? Ich bin dagegen!"-Manier wurde nach einiger Zeit jenes offen gezeigte Mitgefühl, das nach dem großen Abstumpfen noch übrig war, niedergewalzt. Wer nach dem dritten Anschlag immer noch seinen Schock äußerte und Stellung bezog, machte sich selbst angreifbar. Dazu kam die vorwurfsvolle Frage, warum das eine mehr berührt und das andere weniger. Weshalb gab es mehr Empathie-Bekundungen nach Anschlägen in Paris als nach Attentaten in Israel? Kein Wunder, dass öffentliches Mitgefühl in den Sozialen Medien nach und nach zur Mangelware wurde. Wer für das Zeigen seiner Gefühle Häme und Vorwürfe erntet, überlegt es sich beim nächsten Mal unter Umständen doppelt so genau.

Ein fahler Beigeschmack bleibt

Auch wenn Psychologen und Coaches in Interviews rund um die Verarbeitung der Terrorakte nicht müde werden festzustellen, dass es für die Seele gesund ist, Grenzen zu ziehen, so bleibt doch ein fahler Beigeschmack. Denn eines hat sich in den vergangenen Tagen gezeigt: Das abgestumpfte Mitgefühl bezieht sich nicht mehr nur auf den Terror. Nicht einmal ein Erdbeben, so nah an den eigenen Landesgrenzen, bringt die Massen noch dazu, öffentlich mitzufühlen. Kein Zweifel, dass die Bilder aus Mittelitalien die Menschen beschäftigt haben. Dass sie Geschichten wie jene des kleinen Mädchens, das lebend, aber in den Armen seiner toten Schwester, aus dem Schutt gerettet wurde, berührt hat. Aber auf Facebook darüber schreiben? Sein Mitgefühl bekunden? Was bringt das schon ...

»Die Grundlage des Weltfriedens ist das Mitgefühl.«

Vielleicht ist es ja gut, dass wir Soziale Medien wieder mehr dafür nutzen, um über die schönen Seiten des Lebens zu schreiben. Wieder ein Foto aus dem letzten Kroatien-Urlaub mit unseren Freunden teilen. Unseren Bekannten ein hinreißend komisches Video zeigen, das uns vor Lachen die Tränen in die Augen getrieben hat. Solche Dinge werden in Zeiten wie diesen wichtig. Sie bekommen tatsächlich wieder Bedeutung und Wert. Bei allem Verständnis für unsere inneren Schutzmaßnahmen und ohne viel pathetisches Chichi, schadet es aber auch nicht, die wie üblich treffenden Worte des Dalai Lama im Hinterkopf zu behalten: "Die Grundlage des Weltfriedens ist das Mitgefühl." Gezeigt auf Facebook, besprochen mit seinem Umfeld oder gefühlt im Inneren - egal. Hauptsache, es geht uns nicht verloren.

Kommentare

Ivoir
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Ausreden für das Wurschtigkeitsgefühl gibt es anscheinend genug.

Wind80 melden

Hmmmm... spricht da gerade jemand, dem das Wurschtigkeitsgefühl auch schon wurscht ist? :-P

RobOtter

Das freut mich aber - dass diese Meldung ausgerechnet von der Presse kommt. Von jener Presse die jedes Thema ausweidet bis wir emotional kotzen möchten. Von jener Presse die auf Mitgefühl nicht mal den Dreck unter dem Fingernagel gibt. Von jener Presse die am liebsten 365 Katastrophen im Jahr hätte. Diese Presse meint wir verlieren unsere Empathie? Nicht wahr oder?

Ich denke das ist einfach sowas wie ein Selbstschutzmechanismus: Würde man bei dieser nicht-stoppender Flut von Nachrichten über Leid und Elend der Mitmenschen immer mit gleicher Betroffenheit reagieren, wären vielleicht viele von uns bereits depressiv...
Da ist es, denke ich, natürlich dass man die eigene "Mitgefühl-Reichweite" etwas reduziert - man kann halt nicht ständig in Trauer leben..

Edgar Ertrin

Wie jeder Arzt gegenüber dem Tod eine gewisse Distanz aufbaut, so werden auch wir immer mehr schneller und umfassender über schreckliches Leid informiert und zugleich abgestumpft. Das überfahrene Kätzchen in unmittelbarer Umgebung berührt manche daher mehr als 60 Terror-Tote in Jemen.

Katastrophen berühren uns heute sehr wenig, da sie fast alltäglich sind und wir dagegen abstumpfen. So traurig dies ist aber zur Zeit ist es nicht zu ändern. TRAURIG.

wirklichkeit melden

Vor 1000 Jahren war es noch eine Tragödie, wenn zig oder 100e Menschen starben. Aufgrund der Übervölkerung hat sich die Situation geändert. Es gibt unzählige Probleme. Außerdem werden ab 2050 weltweit die Lebensmittel knapp. In diversen Staaten laufen bereits Versuche, das Wachstum einzudämmen, doch sie greifen nicht. Heutzutage ist es eher ein Segen, wenn Leute sterben. Willkommen in der Realität

Roland Mösl
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Zynisch, menschenverachtent, ein tpyischer Fan der Weltuntergnngssekte "Grenzen des Wachstums". Ich hingegen sagen WeltWeiter Wohlstand und eine grenzenlsoe Zukunft der Menschheit ist möglich, indem man nicht den Fortschritt verhindert, sondern ganz im Gegenteil mit einer Investitionslawine und einem Wirtschaftsboom schnellstens auf erneuerbare Energie umsteigt. http://Boom.PEGE.org/

Lautgedacht melden

Nur mit erneuerbarer Energie wirds nicht gehen, eine freiwillige Selbstbeschränkung, weg vom Konsumwahn und eine Ernährung ohne tierliche Produkte. JEDE MINUTE WERDEN TAUSENDE TIERE FÜR DEN FLEISCH UND MILCHKONSUM ERMORDET, gigantische Schäden für die Umwelt durch Tierhaltung. Wo ist hier das Mitgefühl für andere Lebewesen ????

andi56 melden

Hm mal nachgedacht über die Worte von Lautgedacht, der Rückschluß würde aber heißen ohne den Menschen Leben die Tiere noch nur der Mensch ist Tod. Naja er wird es sicher schaffen sich selbst zu killen ohne zu tun anderer Kräfte.

Roland Mösl
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Das Leugnen der Möglichkeiten erneuerbarer Energie, die ständige Predigt zu "Sparen Einschränken Verzichten" ist typisch für diese Weltuntergangssekte. Diese sind die wahren Verhinderer einer echten Energiewende, weil mit erneuerbarer ist ein weltweiter Wohlstand, höher als der Lebensstandard in Österreich möglich.

Wolfgang 69
Wolfgang 69 melden

Wie der Fall Deutschland gezeigt hat, wurde durch erneuerbare Energie nur Wohlstand bei Haus- und Grundbesitzern geschaffen, den Preis hat die Allgemeinheit durch extrem unsoziale Preiserhöhungen der Energiekosten (da diese nicht sozial gestaffelt sind) getragen. Und durch einen nie da gewesenen Ausstoß an CO2 durch alte Kohlemeiler weil ja die böse Kernenergie abgeschalten wurde...

Tavington melden

die erde kann nur 4milliarden menschen ertragen (sauerstoff, trinkwasser, lebensmittel).

Roland Mösl
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Das sind die Lehren der Weltuntergangssekte "Grenzen des Wachstums". Wie alle Weltuntergangssekten bringen die nur Elend und Verderben über die Menschen.

higgs70

Ja,richtig so simma gebaut, wenn irgendwo ein Erdrutsch zwei Dörfer begräbt und unzählige Menschen draufgehen lesen wir drüber weg, wenn bei uns im Ort einer vom Ast erschlagen wird bewegts uns. Und Entfernung zu neutralisieren und die Menschen hinter den Zahlen zu sehen dazu haben die meisten offenbar nicht genug Vorstellungskraft,das wird nicht zu ändern sein.
Ich bin überzeugt, die meisten hier könnten ein kleines weinendes Flüchtlingskind nicht im Straßengraben liegen lassen, aber wenns diese Rückmeldung nicht haben und es zu anonymen Zahl gerinnt ist die Empathie weg.
Oder wenn ich mich erinnere, welch tiefes Mitgefühl auf so einer facebook-Seite das Auffinden eines halb verhungerten Hundes ausgelöst hat und dann die Kommentare dazu lese, wenn 800.000 Kleinkinder in Äthiopien nichts zu essen haben, graut mir. Und dieselben,denen die Tränen in den Augen stehen, wenn ein Kätzchen vom Straßenverkehr plattgebügelt wird, finden nichts dabei, ihr Kinderlein sterbet zu singen, weil die halt dumm genug waren sich in die falsche Religion hineingebären zu lassen.
Es ist dieser Mangel an Vorstellungskraft, der die Welt zu dem macht was sie ist.

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