Von der ewigen Wiederkehr des Grauens

"Leopoldstadt" von Tom Stoppard, ein überwältigendes Familien-Epos im Theater in der Josefstadt

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Theaterkritik - Von der ewigen Wiederkehr des Grauens © Bild: Moritz Schell

Tom Stoppard sei Mitte Fünfzig gewesen, als er erfuhr, was seinen Großeltern, Tanten und Onkeln geschehen ist. Dass er jüdische Vorfahren in der ehemaligen Tschechoslowakei hatte, war ihm bekannt, dass sie Opfer des Nazi-Terrors geworden waren, erfuhr er erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Er war acht, als er mit seinen Eltern vor den Mördern floh, heute ist er der meist gespielte Dramatiker des Vereinigten Königreichs.

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Persönliches sparte er in seinen Stücken stets aus, die Geschichte seiner Familie aber ließ ihn nicht mehr los. Doch er brauchte Jahre, blickt er im News-Interview zurück, bis er das Schreckliche in Worte fassen konnte. Um Distanz zu schaffen, übertrug er die Geschichte seiner Familie auf eine fiktive Wiener jüdische Unternehmerdynastie namens Merz. Das Burgtheater wollte das Stück auf seine Bühne bringen, kapitulierte aber vor der gigantischen Besetzung. 30-Darsteller in einem Stück seien für das größte Theater der Stadt nicht zu bewältigen, wie die Berichterstatterin aus erster Hand erfuhr.

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Anders in der "Josefstadt". Direktor Herbert Föttinger zeigte, wie es geht, und spielt selbst den Patriarchen Merz, einen Juden, der sich taufen ließ, um in der Wiener Gesellschaft des Fin-de-Siècle akzeptiert zu werden. Die Aufführung lässt die geballte dramatische Kraft dieses Stücks, die Daniel Kehlmann in seiner brillanten Übersetzung bewahrt hat, spüren. Regisseur Janusz Kica hält sich an die präzisen Regieanweisungen und führt mit sicherer Hand sein Ensemble. Gespielt wird von allen glänzend: Föttinger lässt mit minimalen Gesten die Kraft seiner Figur, spüren. Das geschieht so unsentimental, so klar, dass es schmerzt. Maria Köstlinger ist ihm eine faszinierende Partnerin, überwältigend, wie sie das Leiden der an Krebs erkrankten gealterten Ehefrau darstellt. Michael Dangl ist als englischer Journalist eine Lichtgestalt, Alma Hasun besticht als Sozialdemokratin, wenn sie rührig eine rote Fahne fertigt. Joesph Lorenz zeigt mit Akkuratesse den Nazi. Raphael van Bargen macht als Überlebender die Nachwirkungen des Nazi-Terrors deutlich. Tobias Reinthaller bewegt als Stoppards autobiographische Figur Leo, um nur einige zu nennen.

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Sie alle tragen diesen Text, bringen ihn im leichten Konversationston zum Schweben oder lassen die Schwere, die Düsternis, die Beklemmung spüren. Janusz Kica versteht es, Stille zu inszenieren. Etwa, wenn von der Bedrohung der Nazis die Rede ist. Da wird es für manche Momente so atemberaubend still, wie man es heute fast nicht mehr am Theater erlebt. „Leopoldstadt“ ist mehr als ein historischer Rückblick auf die Verbrechen der Vergangenheit. Es zeigt, die ständige Wiederkehr des Grauens. Als Stoppard eine seiner Figuren sagen lässt: „Als Großmutter Emilia klein war, ging sie zu Fuß nach Lwiw, den ganzen Weg, fast von Kiew, nachdem man ihr Dorf abgebrannt hatte“, konnte man nicht ahnen, dass es dort wieder brennen würde, wenn sein Stück gespielt wird. Stücke, die unterhalten, gesellschaftlich relevant sind und unaufdringlich politisch, sind essentiell für das Theater heute. „Leopolstadt“ von Tom Stoppard ist all das.

News traf den Mann mit den sieben Oscars für "Shakespeare in Love" zum Gespräch. Das aktuelle Interview mit Tom Stoppard lesen Sie im News-Magazin Nr. 17/2022.